Das "Echtzeit-Web" und die Zukunft des Journalismus

29.06.09

Das, was wir alle in diesen Tagen mit erleben, ist die Geburt eines Phänomens, für das viele inzwischen den Begriff des Echtzeit-Webs benutzen: Gaben Google und die sozialen Medien des Web 2.0 immer einen mehr oder weniger "historischen" Schnappschuss dessen, was war, wieder, erlaubt uns Twitter immer mehr mit zu erleben, was ist, was also aktuell geschieht.

Bei den Attentaten in Mumbai im letzten Herbst erlebten wir das Phänomen erstmals mit einander: Wir wurden im wahrsten Sinne "Zeitzeugen" der Ereignisse, in dem Moment, in dem sie geschahen. Noch weiter verbreitet und damit noch bewegender für noch mehr Menschen war diese Erfahrung in den letzten Wochen und Tagen im Zusammenhang mit der Opposition gegen den Putsch der Hardliner nach den Präsidentenwahlen im Iran. Einen weiteren Höhepunkt erlebten das Web und seine Nutzer am letzten Donnerstag mit dem Tod von Michael Jackson.

Was wir alle erfuhren, war das, was für Journalisten, wenn nicht zum Alltag, dann doch zu den Grundlagen ihrer Berufserfahrung gehört: Schreckliche, oft verwirrende, meist widersprüchliche Meldungen zu einem Ereignis, das wir nicht selbst mit erlebt haben, treffen ein. Wir können im ersten Moment weder erkennen, noch gar beurteilen, was daran wahr, was falsch, was subjektiv gefärbt, was bewusst gefälscht ist. Also bemühen wir uns, Quellen zu vergleichen, Zeugen zu finden und zu befragen, um uns so selbst ein halbwegs gesichertes Bild von dem zu machen, was gerade geschieht.

Schon der dafür durchaus gebräuchliche Begriff, sich ein "Bild" davon zu machen, zeigt an, dass es bei diesem Vorgang keineswegs um eine immer wieder postulierte, aber nichts desto weniger unmögliche "Objektivität", sondern vielmehr um einen durchaus subjektiven Eindruck geht. Jeder Maler weiß das - und wird dafür sogar (und zu Recht) gefeiert, wie Picasso für sein berühmtes Bild von Guernica.

Jeder Journalist versucht dies vergessen zu machen, was auch gelingen konnte, so lange seine Leserschaft keinen Einblick in seine Arbeitsweise und die dafür zu seiner Verfügung stehenden Techniken hatte. Das hat sich durch Twitter im allgemeinen und durch die Twitter-Suche, sowie die Twitter-Trends im besonderen fundamental geändert: Wir alle kennen nun die aufregenden und bewegenden Momente, in denen aus einem Ereignis eine Nachricht wird.

Für Medien und Journalisten bedeutet dies zunächst einen Verlust - von Autorität. Einer Autorität, die wesentlich auf mehr oder weniger exklusiven Zugängen zu Informationen und einem Zeitvorsprung bei ihrer Verbreitung gegründet war. Beides ist durch das Aufkommen des Echtzeit-Web obsolet geworden. Was Medien wie Journalisten nun beklagen. Verständlich wird ihre Klage, wenn man bedenkt, dass sie damit eine wesentliche Geschäftsgrundlage ihres Tuns verlieren.

Was sie (noch) nicht verstehen ist, dass sie mit dem Echtzeit-Web ein neues, machtvolles Werkzeug in die Hände bekommen, das ihre Möglichkeiten nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ vergrößert. Allerdings um den Preis der verlorenen Exklusivität: Sie stehen nun im Wettbewerb mit Millionen von Nutzern des Echtzeit-Web, die die gleichen Möglichkeiten wie die professionell-journalistischen Nutzer haben. Ihre zukünftige, kommunikative wie wirtschaftliche, Existenzberechtigung können Journalisten und ihre Medien also nur noch durch eine überlegene Kompetenz bei der Verarbeitung der Informationen, durch ihre Überprüfung, Verbindung und Bewertung, kurz durch eine überlegene Glaubwürdigkeit erhalten. Und das ist auch gut so.

Angeregt wurde ich zu diesen Gedanken, durch zwei aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und Perspektiven verfassten, ebenso bemerkenswerten wie lesenswerten Artikeln: Einem von Bill Mitchell auf dem Medien-Blog "Poynter Online" zum Mord an Neda im Iran und welche Konsequenzen sich für den Journalismus daraus ergeben und einem anderen von Robin Wauters auf Techcrunch zur Reaktion der "Mainstream-Medien" auf den Tod von Michael Jackson. Read ON!

4 Kommentare

# maurice | 29.06.09

"Existenzberechtigung können Journalisten und ihre Medien also nur noch durch eine überlegene Kompetenz..."

Letztlich eine Emanzipation des Nicht-Journalisten und Normalisierung des Berufes. Der KFZ - Mechaniker bspw. existiert ja auch nicht aufgrund eines exklusiven Zugangs zu Ersatzteilen, sondern primär seines Könnens wegen.

Ebenfalls ist es keine allzu große Änderung des Ist-Zustandes mehr, wenn man bedenkt, dass unter dem Konkurrenzdruck innerhalb der Branche sämtliche Portale schnellstmöglich mit Meldungen a la "Michael Jackson angeblich tot.", über "Michael Jackson ist tot.", bis hin zu einem tatsächlich gehaltvollen Bericht, gefüttert werden.

Einziger Unterschied ist dabei doch bloß, dass der Schweizer Informations - Käse nicht mehr nur von Agenturen auf die Menschheit losgelassen wird. Der gut recherchierte Artikel bleibt jedoch nach wie vor abzuwarten. Wofür die erwähnte Kompetenz und eine aufgebaute Infrastruktur verlässlicher Quellen unabdingbar ist.
Ist aber wohl noch einiges Geschrei bis zur Akzeptanz dieses laufenden Wandels zu erwarten.

Gruß
Maurice

# ossi Urchs | 30.06.09

Vielen Dank @Maurice: Der Aspekt des ja durchaus zu vergleichenden Handwerkers, gefällt mir sehr. Das trifft dann übrigens nicht mehr nur auf Journalisten, sondern auch auf Musiker und Künstler zu ... Nicht der Zugang zu den (Re-)Produktionsmitteln, sondern die Fähigkeit im Umgang mit ihnen definiert den Wert ihrer Arbeit. Sehr interessant.

# Maik Breilmann | 3.07.09


Hallo Ossi.

Da wird sich langfristig hoffentlich so etwas wie "schwarmintelligenz" durchsetzen. Ein schöner Gedanke, das "Demokratie" in dem Medium unverfälscht abgebildet werden kann.

Ach ja. Wie steht es mit dem Webtee 2.0? Let me Know!

In diesem Sinne
Maik


# Tim Cole | 16.12.09

Gut, das Internet schafft Chanengleichheit zwischen dem "Leser-Reporter" und dem Profijournalisten bei der Informationsbeschaffung. Aber bei der Aufbereitung hat derjenige, der's halt gelernt hat, wie der Schwabe sagt, immer noch einen Vorsprung: Er ist besser und vor allem schneller in der Lage, aus dem Steinehäufchen ein Mosaik zu machen.

Dass Problem ist, man aus den gleichen Steinchen verschiedene Mosaiken machen kann, mal mehr, mal weniger gekonnt. Es besteht die Gefahr, dass sich zu viele Leser mit einfachen Mustern zufrieden stellen lassen, die aus wenigen Steinchen bestehen, weil sie es für zu mühsam halten, ein großes, detailreiches Bild zu erfassen. Das ist nichts Neues: Der eine schaut arte, der andere RTL, der eine liest BILD, der andere die, nein, seit Schirrmachers "Payback" wohl nicht mehr die FAZ, aber vielleicht wenigstens die Süddeutsche.

Wem auch immer man sich auf der großen Reise durch die Informationslandschaft anvertraut: Derjenige ist weniger der Berichterstatter und mehr der Fremdenführer, der einem Orientierung und Richtung gibt.

Da es viele gibt, die das versuchen, werden sich meiner Meinung nach einzelne Journalisten mit Leuchtturmfunktion herausbilden, die dann auch weniger Medienmacher sind, sondern Marken. Mir ist es egal, ob mir ein Paul Krugman als Kolumnist der New York Times, als Talkshowgast, als Buchautor oder als Princeton-Professor begegnet: Wenn ich wissen will, was mit der Wirtschaft los ist, ist er für mich die erste Anlaufstation.

Du selbst bist das beste Beispiel: Du hast dich mit deiner einmaligen Kombination aus wilden Rastalocken und ruhiger, tiefsinniger Analyse selbst zu einer Marke gemacht, der ganz bestimmte Menschen vertrauen und bei der man sich immer wieder Hilfe bei der Meinungsbildung abholt. Die Zukunft des Journalismus wird von solchen Typen geprägt werden, nicht von stromlinienförmigen, flachstirnigen Dauerlächlern, die mit Notizblock oder Kamera der Aktualität und Exklusivität hinterher hecheln wie ein Hund hinter der Wurst.

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