Warum wir eine digitale "Aufklärung" brauchen

In den letzten 20 Jahren hat das Internet nicht nur die ganze Art wie wir leben und arbeiten, wie wir lernen und mit einander Geschäfte machen, insbesondere aber die Art wie wir kommunizieren und mit Medien interagieren fundamental verändert. Es hat damit auch eine, weltweit und mit geradezu religiösem Eifer geführte Debatte über Fluch und Segen dieser Entwicklung initialisiert.

Auffällig ist daran weniger die Inbrunst der Argumente und der Furor ihrer Protagonisten, obwohl auch die in einer doch angeblich so säkularisierten und ökonomisierten Gegenwart seltsam anmuten, sondern die immer offensichtlicher werdende Sprachverwirrung, ja Sprachlosigkeit in der Debatte selbst. Und die ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir dem Gegenstand der Debatte noch nicht gewachsen sind, dass die Kategorien um sie überhaupt begrifflich fassen zu können, fehlen.

Das erinnert an die Situation in Europa an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Erstarrte gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen wurden von einer anhaltenden intellektuellen Sprachlosigkeit begleitet. Bis die Aufklärung sich anschickte, das „Licht der Vernunft" als Ultima Ratio (zurück) nach Europa zu tragen. „Sapere Aude!" schallte es von Königsberg bis an die Höfe und Universitäten Europas und die politischen Clubs Amerikas: Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung, meinte Immanuel Kant damit.

Im Gefolge der Aufklärung, die nicht ohne Grund als „Enlightment", also „Erleuchtung", Eingang in die englische Sprache fand, wurden in Europa aristokratische Regimes überwunden, Städte aus den Fesseln von Standesdünkel und Zunft-Herrschaft befreit und menschliche Freiheits- und Grundrechte formuliert. Der damit einhergehende Aufschwung war nicht nur geistiger, sondern insbesondere gesellschaftlicher und nicht zuletzt wirtschaftlicher Natur.

Heute brauchen wir wieder eine Aufklärung, den Mut und die Fähigkeit Digitalisierung und Vernetzung „selbst zu denken", um sie schließlich ihrem Potenzial entsprechend, wirklich produktiv werden zu lassen. So lange diese Debatte abwechselnd kulturpessimistisch rückwärts gewandt oder techno-romantisch verzückt geführt wird, bleibt sie entweder hinter der Zeit zurück oder verliert den Boden unter ihren Füßen. Beides wird dem realen Potenzial von Digitalisierung und Vernetzung nicht gerecht. Im Gegenteil, es verbleibt in der Sphäre des Glaubens, des ungefähren und bloß vorgestellten.

Aufklärung und kritischer Diskurs darüber, was Digitalisierung und Vernetzung wirklich bedeuten, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell, ist heute notwendiger denn je. Allein es fehlen die dafür notwendigen Kategorien und Parameter. Denn der Traum der Vernunft ist inzwischen ebenso ausgeträumt, wie diejenigen der Politischen Ökonomie und der Psycho-Analyse.

Sie alle mögen uns einzelne und als solche durchaus taugliche Werkzeuge liefern, wie im übrigen auch Mathematik und Informatik, Medien- und Kommunikationstheorie, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften; zur Orientierung, gar als Maßstab oder Stütze auf dem Weg in die digitale Wirklichkeit, sind sie alle nicht mehr zu gebrauchen. Entwickeln können wir eine solche Neu-Orientierung nur, indem wir uns den neuen, digitalen Anforderungen stellen, hellwach ihre Differenz zu den uns bekannten Realitäten anerkennen und unterwegs keine Mühen und Rückschläge scheuen. Der Weg in die vor uns liegenden Zukünfte ist noch lang. Kompass und Karten gibt es hier nicht. Wir müssen die digital vernetzte Welt endlich neu vermessen.

2 Kommentare

# Oliver | 15.10.12

Wir haben ja auf G+ buzw Facebook, weiß nicht, grad nen Austausch dazu.

Ich denke, die Plattform für die Auseinandersetzung (im Sinne von: nachdenken) gibt es.

Die Aufklärung selbst.

Sie ist zwar durch das, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts geschah, in Misskredit gekommen, dennoch kann man in Weltgegenden blicken, in den sie nie angekommen ist, und bemerken, dass dort das Strukturierende des Mythos auch versagt. (Ob daran nun die vom wesen ausgehende Globalisierung "eigentlich" schuld trägt, weiß ich nicht. Das wäre, global vernetzt, mitzu(be)denken.)

Ich hatte das hier skizziert,
https://docs.google.com/present/edit?id=0AeXFcCDLCNxFZGZ4empoOG5fMjA3azZkZDZxZnQ
es hieße, das Netz möge sein
frei und gleich (in Kommunikation, Diskuission, Enscheidungsfindung (z.B. über regularien), Zugang zu Information)

Daraus wäre (so man will) als Digitale E5hik abzuleiten
Digitale Ethik

erhebe Deine Stimme (in etwa die egalité)
öffne dich (liberté I)
befreie dich (liberté II)
kollaboriere (das wäre die Fraternité, das wäre durchaus auch eine politisch, also auf gesellschaftliche Strukturen einflussnehmende Kollaboration).

Das wäre jetzt grob der Soundztrack zum 2. Teil der Präse, der erste ist eher Bestandsaufnahme der Kritik am und der Struktur des Netz(es).

# Ossi Urchs | 21.08.13

Klasse, Oliver. Die Folien sind schon mal recht viel versprechend. Das dazu gesprochene Wort würde mich noch interessieren ;-)
Vielleicht können wir ja mal gemeinsam auf die beine stellen...

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